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30.09.2020

„Wir dürfen die Augen nicht verschließen!“

Corona, Klimawandel und Buddhas Lehre – Teil I

Die Corona-Krise hält uns scheinbar gefangen und löst vielerlei Reaktionen aus. Der Klimawandel ist in den Hintergrund geraten. Wie können uns Sichtweise und Praxis des Dharma hier unterstützen?

 

In den traditionellen Unterweisungen werden die leidvollen sechs Bereiche von Samsara, dem Daseinskreislauf, sehr ausführlich beschrieben. Das soll uns aufrütteln und anspornen, unsere Ausrichtung zu ändern. Im selben Sinne ist es notwendig, ein klares Bild über die Situation zu gewinnen, in der wir uns heute befinden.

 

Die Fakten

 

Die Liste an bedrohlichen Entwicklungen ist lang. Als globale menschliche Gemeinschaft erschöpfen wir die Ökosysteme in einem Ausmaß, welches das Überleben der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, ernsthaft in Frage stellt. Die Böden, auf denen unsere Ernährung basiert, werden zusehends ausgelaugt, riesige Mengen an wertvollem Boden erodieren jedes Jahr unwiederbringlich (24 Milliarden Tonnen),1 werden unfruchtbar oder schlicht verbaut und versiegelt. Laut FAO können die Böden der Erde nur noch für etwa 60 Erntejahre ausreichende Erträge2 liefern. Die industrielle Landwirtschaft vergiftet nicht nur unsere Böden und zerstört großflächig Lebensräume für unzählige Tier- und Pflanzenarten, sondern führt auch zu unbeschreiblichem Tierleid. Soziale Ungleichheiten und das Investitionskapital der Superreichen3 spielen hier eine große Rolle.

 

Das komplexe klimatische System der Amazonasregenwälder, das eine überlebenswichtige „Klimapumpe“ der Erde ist, steht aufgrund der Abholzung und Zerstückelung kurz vor dem Zusammenbruch.4 Es bleiben nur noch wenige Jahre, um die Entwicklung aufzuhalten, teilweise sind die Vorgänge schon jetzt irreversibel. Die Auswirkungen werden global spürbar sein. Ähnliches gilt für die anderen großen Regenwälder in Indonesien und Afrika, deren Verlust ebenso rasant zunimmt.

 

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Der Klimawandel verschärft viele Probleme wie Wassermangel, rasanter Artenschwund und Instabilität der Ökosysteme. Das CO2-Budget, das wir noch emittieren dürfen, um unter 1,5 Grad Erwärmung zu bleiben und damit gravierende Folgen wie Dürren, steigende Meeresspiegel, Extremwetterereignisse, Ressourcenkonflikte und Klimaflüchtlinge abzuwenden, reicht nur mehr für 8 Jahre. Bis 2030 muss der globale CO2-Ausstoß um 50 Prozent reduziert5 werden, um die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Dazu müsste der globale Ausstoß an CO2 jährlich um 7,5 Prozent, in den Industrieländern sogar um 10 Prozent gesenkt6 werden. Die tatsächliche Entwicklung geht in eine andere Richtung, selbst im Jahr der Corona-Krise werden wir diese Ziele nicht erreichen. Auch das Auftreten der Kipppunkte, welche die globale Erwärmung verstärken, wie das Auftauen der Permafrostböden, der Rückgang des Eisschildes in Grönland oder der arktischen Meereisdecke, verlaufen wesentlich schneller, als noch vor wenigen Jahren prognostiziert.

 

Der Verlust der Artenvielfalt wird wenig beachtet. Er ist vergleichbar mit einem Flugzeug, in dem während des Fluges nach und nach immer mehr Schrauben herausgenommen werden. Das geht eine Weile gut, man merkt kaum etwas, aber irgendwann fällt es auseinander. Gewöhnlich entstehen neue Arten in etwa demselben Tempo, wie Arten aussterben. Zurzeit geschieht der Verlust der Arten jedoch 10- bis 100-mal schneller. Wir befinden uns im sechsten großen Artensterben, vergleichbar mit dem Verschwinden der Dinosaurier. Damals gab es den Menschen noch nicht, und es ist fraglich, ob es uns in Zukunft noch geben wird.

 

Corona, Mamos und die Warnzeichen der Natur

 

Corona und das Auftreten anderer zoonotischer7 Viren wie Influenza, SARS, MERS und Ebola hängen stark mit dem Eindringen menschlicher Aktivitäten in bisher unbeeinträchtigte Lebensräume und dessen ökologische Folgen8 zusammen, sowie mit Massentierhaltung und Fleischkonsum.9 Ökologen und Virologen haben seit vielen Jahren vor dem Auftreten einer derartigen Pandemie gewarnt, und aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir zusehends häufiger damit konfrontiert sein.

 

Die Corona-Krise ist wie ein Warnschuss vor den Bug der globalisierten Raubgesellschaft. Nach einem Jahr extremer Waldbrände in Brasilien und Australien, verbunden mit einer geradezu willentlichen Ignoranz der Machthaber, und einer intensiven politischen Auseinandersetzung zum Klimawandel im Angesicht einer Reihe von wissenschaftlichen Erkenntnissen, welche die sich rasant verschärfende Lage verdeutlichen, kam Corona fast wie gerufen, auf jeden Fall nicht überraschend.

 

Viele Meister der tibetisch-buddhistischen Tradition sprechen in Verbindung mit Corona davon, dass die Mamos aufgebracht sind. Mamo bedeutet wörtlich etwa Mutter-Frau und wird auch synonym zu Dakini10 verwendet. Es gibt eine auffallende Parallele zwischen der Art und Weise, wie unsere patriarchal geprägte Gesellschaft mit Frauen bzw. dem Weiblichen umgeht und wie sie mit Natur umgeht. Die Natur ist weiblich, und wir sprechen von Mutter Erde.

 

Mamos gehören zu den weiblichen Dharmaschützern und sind mit den fünf Elementen11 sowie Orten, Wäldern etc. verbunden. Sie sind gewissermaßen deren Essenz, die Essenz der Natur, deren Teil wir sind. Dharmaschützer sind subtile Wesenheiten oder Energien, welche die spirituelle Praxis schützen, als auch die Ausbreitung und lebendige Übertragung der Dharmalehren, die Aktivität der Lehrer und die Reinheit der Übertragungslinien. Sie werden häufig in einer zornvollen Form dargestellt. Die wichtigsten Dharmaschützer sind völlig erleuchtete Buddhas, die sich direkt aus der Weisheitssphäre der letztendlichen Wirklichkeit des Dharmakaya manifestieren. Andere erscheinen als Aktivitäts- oder weltliche Schützer, entsprechend der Sphäre ihres Handelns. Dharmaschützer sind gewissermaßen die natürliche, symbolische Manifestation unserer Weisheit als auch unseres Karmas.

 

Wenn die Mamos aufgebracht sind, verursachen sie Epidemien, Krankheiten wie Krebs und auch Naturkatastrophen wie Erdbeben, Stürme usw. Sie werden aufgebracht durch Verschmutzung von Luft und Wasser, Misshandlung von Tieren, Abholzung von Wäldern usw., aber auch durch Streit und Auseinanderdriften von Beziehungen, Familien und Gesellschaften – und natürlich die Emotionen, welche diese unheilsamen Handlungen antreiben. Leben wir in Harmonie, dann sind auch die Mamos in Frieden und sie unterstützen uns, verursachen gute Ernten, Überfluss, Gesundheit und blühende Gesellschaften.

 

Um die Mamos zu befrieden, ist es entscheidend, dass wir uns zunächst bei ihnen entschuldigen, uns bei der Natur entschuldigen, und unsere negativen Handlungen, unsere Gier und Unwissenheit erkennen, eingestehen und bedauern. Bedauern geht mit einem Gefühl der Traurigkeit einher, weil wir die Sinnlosigkeit unseres Handelns und den Schaden und das Leid sehen, die wir anderen und uns selbst zufügen. Nur dann können wir unsere Geisteshaltungen, unser Handeln und unseren Kurs tatsächlich ändern.

 

Sie mögen Zweifel daran haben, ob es Wesen oder Energien wie die Mamos wirklich gibt. Aber an den grundlegenden Wirkmechanismen und der Notwendigkeit, unser Verhalten tiefgreifend zu ändern, ändert das jedoch nichts.

 

Ursachen und Alternativen

 

Das zerstörerische, auf neoliberaler Ideologie beruhende Wirtschaftssystem mit dem Fokus auf Konkurrenz, Profit, Deregulierung der Märkte und uneingeschränktem Welthandel beruht auf Gier, Ausbeutung und einer falschen Sichtweise der Wirklichkeit. Damit spiegelt es die drei Geistesgifte Gier, Aggression und Unwissenheit, welche den leidhaften Daseinskreislauf von Samsara am Laufen halten. Insbesondere Gier hat die Eigenschaft, dass sie nicht zu Zufriedenheit führt. Wie der Buddha lehrte, ist Gier, wie Salzwasser zu trinken, der Durst nimmt kein Ende. Es sind Achtsamkeit, Großzügigkeit und liebende Güte, die zu Zufriedenheit und eigentlichem Reichtum führen.

 

„Das eigentliche Wesen von dem, was Daseinskreislauf (Samsara) genannt wird, ist Leerheit.

Seine Erscheinungsweise ist Täuschung

und seine charakteristische Eigenschaft ist,sich als Leiden zu manifestieren.

Das eigentliche Wesen von dem, was Freisein von Leid (Nirwana) genannt wird, ist ebenfalls Leerheit.

Seine Erscheinungsweise ist das völlige Sich-Erschöpft- und Aufgelöst-Haben von Täuschung

und seine charakteristische Eigenschaft ist das Freisein von allem Leid.“

Dschetsün Gampopa, Schmuck der Befreiung

 

 

Samsara ist nichts Neues, es ist bekannt dafür, endlos zu sein. Mit den technologischen Entwicklungen und Möglichkeiten der Neuzeit wird unser samsarisches Handeln jedoch zu einer Bedrohung unserer Lebensgrundlagen. Wir schaffen sozusagen ein Super-Samsara. Wie SH der Dalai Lama anmerkt, haben wir als Menschen ungemein große Möglichkeiten, sowohl in die positive Richtung im Sinne von Liebe, Mitgefühl und Weisheit, als auch in die negative Richtung unvorstellbarer Zerstörung.

 

Konsum und Überfluss sind der große Treiber der Umweltzerstörung. Wir leben in einer Sucht-Gesellschaft. Sucht nach Konsum, Geld, Vergnügen, Erfolg, Macht, Sex und Drogen, deren Konsum massiv steigt. Sucht entsteht durch das Fehlen eines Gefühls der Verbundenheit, der Bindung an Familie, Freunde, Gemeinschaft, Orte und Natur, durch das Fehlen eines tiefen Wissens über wechselseitige Vernetztheit und Liebe. Sucht ist verbunden mit einem tiefen und nagenden Gefühl der Einsamkeit und Trennung – nicht zu verwechseln mit Alleinsein und Abgeschiedenheit. Verzweifelt versuchen wir, dieses schwarze Loch durch Konsumieren zu füllen. Einsamkeit ist die große, moderne Pandemie, macht Menschen krank und führt zu vorzeitigem Tod.12 Mit der Einsamkeit geht auch ein Gefühl von Selbsthass, mangelndem Selbstwert und Selbstaggression einher. Diese sind eng miteinander verbunden und verstärken sich gegenseitig. Sucht, Einsamkeit und Depression sind im Wesentlichen psychologische und spirituelle Probleme. Sie sind die treibende Kraft als auch die Kehrseite von Wirtschaftswachstum, sozialer und ökologischer Zerstörung.

 

Den Klimawandel und die ökologische Zerstörung allein durch die wissenschaftliche und technologische Linse zu betrachten, kann die Grundursachen nicht wirklich adressieren – diese Betrachtungsweisen bieten daher auch keine ausreichenden Lösungen. Es ist genau das Aufkommen von Technologie und Wissenschaft – eine bestimmte Herangehensweise in der Wissenschaft, die auf einer cartesianischen, reduktionistischen Sicht der Wirklichkeit beruht –, das zu einem wachsenden Gefühl der Trennung und des Mangels an Verbundenheit führte und führt. Technologie kann natürlich in vielerlei Hinsicht nützlich sein, aber das Gefühl der Verbundenheit und das innere Wissen der wechselseitigen Durchdringung aller Phänomene und fühlenden Wesen kommen durch Liebe und intuitive Einsicht zustande, nicht durch Technik.

 

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Technische Lösungen zur CO2-Reduktion, „erneuerbare Energien“ und neue, energiesparende, am besten „smarte“ Technologien alleine sind keine echten Lösungen, ja mitunter verschärfen sie die Probleme noch weiter. So führen etwa energieeffiziente Produkte in Summe zu noch mehr Energieverbrauch,13 beispielsweise im Falle der LEDs, die scheinbar so günstig im Verbrauch sind, dass sich nun viele bemüßigt fühlen, jeden Grashalm ihres Domizils zu beleuchten. Im Namen des „Klimaschutzes“ werden Riesendämme gebaut, eine hässlich industrialisierte Forstwirtschaft für die „Biomassenutzung“ betrieben und die offene Weite von Landschaften durch rot blinkende Windränder in Warnzonen umgewandelt.

 

Selbst wenn wir unseren Energie- und Rohstoffhunger zu 100 Prozent aus „nachhaltigen“ Quellen decken könnten, wären die Folgen für Umwelt und Landschaftsbild gravierend; wir brauchen schlicht zu viel davon. Solche „Lösungen“ sind daher in etwa so, als würde man versuchen, die Titanic durch einen grünen Anstrich am Sinken zu hindern. Solange wir das zugrundeliegende Fortschritts- und Wachstumsparadigma nicht ablösen durch eine integrierte Sichtweise menschlichen Seins, wird die Zerstörungswut des Anthropozäns14 weiter ihren Ausdruck finden.

 

Eine andere Wirtschaft ist durchaus möglich, wie die Überlegungen der Postwachstumsökonomie, der Gemeinwohlökonomie, das Konzept des Bruttonationalglücks in Bhutan oder die Philosophie des buen vivir, des guten Lebens, in Südamerika zeigen. Viele familiengeführte Unternehmen haben auch gar kein Interesse an Profitmaximierung und Wachstum, sofern sie die Globalisierung nicht dazu zwingt. Die gemeinwohlorientierten Ansätze des Wirtschaftens haben gemeinsam, dass sie mehr in „Wir“ als in „Ich“ denken, die Natur und die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen achten und sich die Frage stellen, was es wirklich braucht, um glücklich zu sein. Durch die Praxis des Dharma und insbesondere der Achtsamkeit können wir etwas Wesentliches hinzufügen: Die Entdeckung des inneren Reichtums, die zu völliger Zufriedenheit führen kann, ohne von materiellem Reichtum abhängig zu sein.

 

Text und Fotos: Thomas Klien

 

1   https://www.weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichts/bodenfruchtbarkeit-und-erosion.html

2   https://www.bund-rlp.de/service/meldungen/detail/news/studie-boeden-werden-immer-schlechter-nur-noch-60-ernten-moeglich/

3   https://www.nature.com/articles/s41893-020-0480-2

4   https://www.tagesspiegel.de/politik/amazonas-experte-warnt-nicht-nur-fuer-brasilien-wird-es-das-ende-sein/24955946.html

5   https://www.nature.com/articles/d41586-019-02734-x

6   https://www.nature.com/articles/d41586-019-02744-9

7   D. h. Viren, die von Tieren auf den Menschen überspringen.

8   https://www.nature.com/articles/d41586-020-02341-1

9   https://nutritionfacts.org/video/pandemics-history-prevention/

10 Dakinis verkörpern weibliche Weisheitsenergien, die Dynamik des ungeborenen Weisheitsraumes.

11 Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum

12 https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/1745691614568352

13 die sogenannte Effizienzfalle

14 Geologen sprechen vom Anthropozän, weil die menschlichen Aktivitäten ein Ausmaß erreicht haben, das eine dominante gestaltende Kraft der Erde bildet.


Thomas Klien
studierte Landschaftsökologie und -planung. Er praktiziert in den Kagyü- und Nyingma-Linien des tibetischen Buddhismus und absolvierte ein traditionelles Dreijahresretreat unter der Leitung von Gendün Rinpoche. Seit einigen Jahren betreut er Landschaftsgestaltungsprojekte in Chökyi Nyima Rinpoche‘s Gomde Zentren in Oberösterreich und den Pyrenäen.



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