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23.01.2022

Meister der Achtsamkeit

Zum Tod von Thich Nhat Hanh

Thich Nhat Hanh ist einer der bedeutendsten und  einflussreichsten buddhistischen Lehrer unserer Zeit. Nach mehr als 65-jähriger Lehrtätigkeit ist er am 22.1.2022 um Mitternacht im Alter von 95 Jahren in die große Verwandlung eingegangen.

 

Meister der Achtsamkeit

 

Geboren 1926 in Zentralvietnam, gilt er als einer der Wegbereiter und „Meister der Achtsamkeit“. Er hat erfolgreich alte überlieferte Lehren des Buddha neu interpretiert und für die  heutige Zeit besser nutzbar gemacht. In der von ihm entwickelten „Kunst des Achtsamen Lebens“ fließen meditative Übungen, ethische Ausrichtung und Schulung der Einsicht in einer Weise zusammen, die es auch Andersgläubigen ermöglicht, davon zu profitieren.

 

Nicht zuletzt dank seiner Fähigkeit, tiefgründige Lehren auf eine verständliche, alltagsnahe und oftmals poetische Weise zu vermitteln, hat das Thema Achtsamkeit mittlerweile alle gesellschaftlichen Schichten erreicht. Seine Bücher wurden weltweit millionenfach verkauft, die „Achtsamkeitsübungen“ finden auch in therapeutischen und pädagogischen Rahmen, auch außerhalb buddhistischer Gruppen Anklang.

 

„Apostel des Friedens und der Gewaltlosigkeit“

 

Thich Nhat Hanh reiste allein im Jahr 1966 weltweit in 19 Länder und setzte sich gegenüber westlichen Führern für ein Ende des Vietnamkrieges ein, auch in Europa. Er wurde bei zwei Audienzen von Papst Paul VI. empfangen. In Parlamenten, an Universitäten und in Kirchen sprach er über die Situation in Vietnam, oft vor über tausend Menschen. Wegen seines unermüdlichen und unparteiischen Einsatzes für den Frieden in Vietnam auf diesen Reisen durch Europa und die USA wurde ihm 1966 die Wiedereinreise nach Vietnam untersagt. Damit begann ein 39 Jahre langes Exil.

 

1967 nominierte Martin Luther King ihn für den Friedensnobelpreis und nannte ihn „einen Apostel des Friedens und der Gewaltlosigkeit“.

 

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„Achtsamkeit zu üben bedeutet, zum Leben im gegenwärtigen Augenblick zurückzukehren“

 

Gründer zahlreicher buddhistischer Einrichtungen

 

Schon als junger Mönch engagierte er sich aktiv in der Bewegung zur Erneuerung des vietnamesischen Buddhismus. Als der Krieg nach Vietnam kam, sahen sich die Mönche und Nonnen mit der Frage konfrontiert, ob sie am kontemplativen Leben festhalten und weiterhin in den Klöstern meditieren, oder ob sie den Menschen in ihrer Umgebung helfen sollten, die massiv unter den Bombenangriffen und den Kriegswirren litten. Thich Nhat Hanh gehörte zu denjenigen, die sich entschlossen beides zu tun, und begründete damit die Bewegung des “Engagierten Buddhismus”, der nicht nur geistiges Leiden, sondern auch Gewalt, soziale Ungerechtigkeit und Armut zu überwinden sucht und gleichzeitig verkrustete Strukturen und bedeutungslos gewordene religiöse Praktiken aufgab.

 

1961 reiste Thich Nhat Hanh in die Vereinigten Staaten, um an der Universität in Princeton Religionswissenschaften zu studieren. 1962 wechselte er an die Columbia Universität und führte dort seine Forschungen fort. Er erlebte eine Reihe immer tiefergehender spiritueller Durchbrüche.

 

1964 nach Vietnam zurückgekehrt, übernahm Thich Nhat Hanh eine führende Rolle in der buddhistischen Bewegung für Frieden und soziale Aktion. Er gründete die „Schule der Jugend für soziale Dienste“ (SYSS), eine Basis-Hilfsorganisation mit über 10.000 Freiwilligen. Sie bauten in den Kriegswirren Dörfer und Schulen wieder auf und gingen auch in diejenigen Kriegsgegenden, wohin sich niemand anderes traute, um den Kindern und Kriegsopfern Nahrung zu bringen.

 

Thich Nhat Hanh gründete in den 1960er-Jahren auch die Van Hanh Buddhist University in Saigon, den Verlag La Boi sowie eine einflussreiche Zeitschrift für Friedensaktivisten.

 

Im Jahr 1966 gründete er den Intersein-Orden, eine neuartige Gemeinschaft, die die Nicht-Parteinahme, aktives Handeln und die Freiheit von allen Ideologien betont. Dieser Orden hat heute über 1000 Mitglieder in aller Welt.

 

In den letzten Jahren hat Thich Nhat Hanh Klöster in den USA, Vietnam, Paris, Hongkong, Thailand und Australien gegründet sowie in Deutschland das “Europäische Institut für Angewandten Buddhismus” (EIAB) in Waldbröl bei Bonn, das zu den größten buddhistischen Instituten in Europa zählt und Kurse zu vielfältigen Themen anbietet.

 

Wegbereiter der Achtsamkeit im Westen

 

1982 folgte die Gründung von  Plum Village in Frankreich. Unter der spirituellen Führung von Thich Nhat Hanh hat sich dieses Retreat-Zentrum von einem kleinen ländlichen Gehöft zum heute größten und aktivsten buddhistischen Kloster und Achtsamkeits-Zentrum des Westens entwickelt, mit über 200 ansässigen Mönchen und Nonnen sowie mehr als 10.000 Besuchern jährlich. Mittlerweile gibt es zahlreiche weitere Praxiszentren und Klöster in allen Teilen der Welt, die Teil der internationalen Plum Village Gemeinschaft sind.

 

In den 1980er- und 1990er-Jahren besuchte Thich Nhat Hanh häufig die USA, und sein Einfluss auf die aufkeimende westliche Meditationsszene wuchs. Er betonte die Bedeutung der Ethik in der Meditationspraxis, die viele Menschen beiseite ließen.

 

2008 hat Thich Nhat Hanh „Wake Up“ gegründet, eine weltweite Bewegung Tausender junger Menschen, die heute ein Netzwerk von über 100 lokalen Gruppen umfasst und wöchentliche Treffen, Flash-Mob-Meditationen und engagierte Aktionen organisiert. Er hat außerdem das internationale „Wake Up Schools Programm“ ins Leben gerufen, das Lehrer und Pädagogen darin ausbildet, in Schulen in Europa, Amerika und Asien Achtsamkeit zu vermitteln.

 

Jedes Jahr nehmen mehr als 75.000 Menschen weltweit an Aktivitäten teil, die von Mönchen und Nonnen aus Plum Village geleitet werden. Thich Nhat Hanh unternahm zahlreiche Reisen, u. a. nach China, Indien, Deutschland und England. Er leitete Veranstaltungen für alle Berufs- und Gesellschaftgruppen: in Gefängnissen genauso wie in Parlamenten, für TherapeutInnen, Wissenschafter, SoldatInnen und Vietnam-Veteranen.

 

Papst Franziskus lud Thich Nhat Hanh 2014 als Vertreter des Buddhismus zu einer gemeinsamen Erklärung der Weltreligionen gegen moderne Sklaverei ein.

 

Thich Nhat Hanh über das Sterben

      

Auch Morgen werde ich noch sein.

Aber ihr werdet sehr aufmerksam sein müssen, um mich zu sehen.

Ich werde eine Blume sein oder ein Blatt.

Ich werde in diesen Formen sein und euch begrüßen.

Wenn ihr aufmerksam genug seid, werdet ihr mich erkennen

und vielleicht werdet ihr mich auch grüßen.

Darüber würde ich sehr glücklich sein.

 

Aus Thich Nhat Hanh: „Mit dem Herzen verstehen.“ Kommentare zu dem Prajnaparamita Herz Sutra

 

Hoffnungsträger einer blühenden Gemeinschaft

 

Menschen allen Alters und Herkunft und insbesondere viele junge Leute werden von seiner offenen, modernen und undogmatischen Form der Spiritualität angesprochen. Die Stärke, Vielfalt und Vitalität von Thich Nhat Hanhs internationaler Gemeinschaft und Gefolgschaft gehört auch zu seinem großem Vermächtnis.  „Achtsamkeitspraxis“ als spiritueller Weg kann nur in einer Gemeinschaft (Sangha)  verwirklicht werden. Thich Nhat Hanh sieht in der Gemeinschaft sogar den „Buddha der Zukunft“.

 

Am 11. November 2014, einen Monat nach seinem 88. Geburtstag, erlitt Thich Nhat Hanh einen schweren Schlaganfall. Obwohl körperlich stark eingeschränkt, inspirierte er weiterhin durch seine friedliche, ruhige und unerschütterliche Präsenz. Seit 2018 lebte er wieder im Tu-Hieu-Tempel in Vietnam, wo er am 1. Mai 1966 von Zen-Meister Chan That ordiniert wurde und am 22.1.2022 seinen letzten Atemzug getan hat.

 

Seine Bestrebungen und Hoffnungen leben in einer blühenden Gemeinschaft aller Altersgruppen, Nationalitäten und Hintergründe weiter.

 

Links

 

Thich Nhat Hanh Memorial Ceremonies:https://www.youtube.com/channel/UCcv7KJIAsiddB2YRegvrF7g

 

Plum Village: https://plumvillage.org/

 

"What Happens When We Die?" (Clip from a Dharma talk by Thich Nhat Hanh, 2014 06 17, Plum Village, France): https://www.youtube.com/watch?v=8xLbZZAjjY8

 

Redaktion: Manfred Krejci, Erika Erber; Fotos: plumvillage.org



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